"Eine Armee gründet auf Disziplin": Die ukrainische Führung setzt auf härtere Strafen für Deserteure

Ivo Mijnssen, Wien 29.12.2022, 05.30 Uhr

Die schwierige Lage an der Front und ein neues Gesetz bringen Spannungen an die Oberfläche. Die heftige Debatte in der Ukraine dreht sich auch um das demokratische Selbstverständnis der Volksarmee. Ukrainische Soldaten bauen am Stephanstag einen neuen Bunker in Bachmut.
Clodagh Kilcoyne / Reuters

Seit mehr als zehn Monaten verteidigen die ukrainischen Streitkräfte ihr Land gegen die russischen Invasoren. Es ist ein unerwartet erfolgreicher Kampf, der Moskau kaum Siege ermöglichte. Und es ist ein blutiger Kampf, in dem die Zahl der Toten ein Staatsgeheimnis darstellt. 10.000 bis 13.000 nannte ein Präsidentenberater Anfang Monat - es dürfte kaum das wahre Ausmass spiegeln. Die Frontalangriffe der als Kanonenfutter verwendeten Wagner-Söldner im Donbass und der erbarmungslose russische Beschuss reissen ständig neue Löcher in die Reihen der Verteidiger und nagen an der Moral.

Details dazu dringen nur selten nach aussen. Es dominiert das Bild der heldenhaften Patrioten und der Einheit von Politik und Militär, verkörpert etwa durch den triumphalen Besuch von Wolodimir Selenski in Bachmut vor einer Woche. Doch der Generalstab sorgt sich um die Disziplin. Anders ist es nicht zu erklären, dass das Parlament vor Weihnachten im Schnellverfahren ein von der Militärführung initiiertes Gesetz verabschiedet hat, das die Möglichkeiten zur Bestrafung fehlbarer Soldaten drastisch erweitert.

Intervention des Generalstabschefs

Die Verschärfungen des Gesetzes 8271 sehen vor, dass Kämpfer, die Befehle ihrer Vorgesetzten missachten oder ihre Positionen oder Einheiten unerlaubt verlassen, zwischen 3 und 9 Jahre ins Gefängnis müssen - bisher waren mildere Strafen vorgesehen, die zudem oft auf Bewährung ausgesprochen wurden. Neu wird Desertion unter feindlichem Feuer sogar mit bis zu 12 Jahren Freiheitsentzug geahndet.

Der Generalstabschef Waleri Saluschni absolvierte kurz vor Weihnachten einen seiner seltenen öffentlichen Auftritte und forderte den Präsidenten zur raschen Unterzeichnung des Gesetzes auf. "Eine Armee gründet auf Disziplin", erklärte der 49-Jährige, der als einer der Architekten der Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte gilt. An exponierten Orten habe ein unautorisierter Rückzug fatale Konsequenzen. "Oft müssen verlorene Positionen durch Sturmangriffe zu einem hohen Preis zurückerobert werden. Das darf nicht sein", erklärte Saluschni auf Facebook. Solch blutige Gegenangriffe gab es in Bachmut während der letzten zwei Wochen wiederholt.

Waleri Saluschni, der Generalstabschef der ukrainischen Streitkräfte.
Gleb Garanich / Reuters

Der populäre Befehlshaber, der mittelfristig auch als möglicher Herausforderer von Selenski gilt, rechtfertigte die Notwendigkeit der Verschärfungen damit, dass Strafen gegenwärtig kaum je implementiert würden. Oft kämen Fehlbare mit einer Verwarnung oder einer kleinen Busse davon. Und härtere Verdikte würden von zivilen Gerichten in Rekursverfahren oft aufgehoben. Dies soll in Zukunft verunmöglicht werden: Die Richter müssen sich an die im neuen Gesetz vorgesehenen Mindeststrafen halten, Bewährung gibt es keine mehr.

Diese Unmöglichkeit, noch zu differenzieren, kritisieren selbst jene, die eine Stärkung der Truppendisziplin für notwendig halten, wie etwa der Lwiwer Anwalt Oleh Mizik. Das verschärfte Gesetz fokussiere einzig auf die Straftat, nicht aber deren Schwere. Das führe dazu, dass Soldaten, die etwas zu spät von einem Erholungsurlaub zurückkehren, ebenso für fünf Jahre inhaftiert würden wie jene, die ihre Einheit unter Artilleriebeschuss im Stich liessen.

Die Unterstützer entgegnen, das Gesetz komme nur bei schweren Vergehen zum Zug, ausserdem enthalte es Schutzmechanismen gegen Willkür. Kommandanten müssen ebenfalls mit bis zu 12 Jahren Haft rechnen, wenn sie ihre Untergebenen beleidigen oder bedrohen. Allerdings bleibt der Mechanismus der Bestrafung unklar: So gibt es in der Ukraine keine Militärgerichte, und die Militärstaatsanwalt verfügt nur über beschränkte Befugnisse. Arreststrafen sollen aber sofort verhängt werden können, um einen raschen Effekt auf die Disziplin zu haben.

Heftige Debatte im Krieg

Die Diskussion ist in der Ukraine so heftig, dass 35.000 Menschen eine Petition unterzeichnet haben, die Präsident Selenski zum Veto gegen das Gesetz auffordert. Ihnen geht es ebenso um die überhastete Verabschiedung des Gesetzes wie um eine grundsätzliche Kritik, die häufig aus den Reihen der Armee selbst kommt. Diese fällt den Initianten der Petition erklärterweise schwer - sie fürchten, der russischen Propaganda in die Hände zu spielen.

"Das war mein schwierigster Text", gesteht etwa der hochdekorierte Veteran Ewhen Diki, "aber es gibt Momente, da Schweigen unsere Chancen auf den Sieg verringert". Im Gegensatz zu den Russen trieben die Ukrainer ihre Soldaten nicht "mit dem blutigen Vorschlaghammer" in den Kampf. Im übertragenen Sinne fordere die Generalität aber nun genau einen solchen.

Auch der Kriegsheld, Unteroffizier und Blogger Juri Hudimenko betont den menschlichen Faktor. "Die Streitkräfte der Ukraine bestehen aus Leuten. Sie gehen durch die Hölle." Mit diesen Menschen müsse man reden, statt sie zu bestrafen und durch das Gesetz zu demotivieren. Gute Kommandanten täten dies. Das Gesetz brauchten nur inkompetente Offiziere der alten sowjetischen Schule sowie jene Jungen, die ihre Posten durch persönliche Beziehungen zur Generalität erhalten hätten.

Hier wird ein Spannungsverhältnis zwischen Armeeführung und einfachen Soldaten spürbar. Die schwierige Lage an der Front und der Winterkampf aus einfachen Unterständen dürften die Ressentiments befeuert haben - das Gesetz 8271 stellt eine Reaktion darauf dar. Es bleibt allerdings Symptombekämpfung, da sich die Ursachen - der russische Zermürbungskrieg, aber auch anhaltende Probleme bei der Versorgung der Front - nicht leicht beheben lassen.

Demokratie und Disziplin

Auch der Generalstabschef Saluschni sah sich gezwungen, auf die Kritik zu reagieren. Diese sei in einer Demokratie normal, und er sei sich bewusst, dass es Gründe dafür gebe, dass Soldaten sich ohne Erlaubnis zurückzögen, meinte er in Anspielung auf schlechte Kommandanten. Er arbeite jeden Tag an der Behebung der Mängel und bitte darum, die Debatte zu beenden, "um gemeinsam dem Sieg näher zu kommen".

Die offene Diskussion zeigt, wie sehr sich die Ukraine von Russland unterscheidet - in ihrem politischen System wie in ihren Streitkräften. Diese bestehen grösstenteils aus Freiwilligen, von denen sich viele in den ersten Tagen des Krieges gemeldet haben, um ihre Heimat zu verteidigen. Die eigene Motivation und die im Vergleich zum Feind flachen Hierarchien stellen eine grosse Stärke dar.

Gleichzeitig erschweren sie die Koordination und tragen potenziell zu disziplinarischen Problemen bei. Zum einen sind die Einheiten sehr heterogen zusammengestellt, unerfahrene Landwehr-Truppen und hochprofessionelle Brigaden teilen sich zahlreiche Frontabschnitte. Zum anderen kollidiert die Diskussionskultur modernerer Einheiten mit der sowjetischen Prägung vieler Kader.

Nach zehn Monaten Krieg ohne Aussicht auf einen Frieden ist die Herausforderung, all diese zunehmend erschöpften Elemente zusammenzuhalten, so gross wie nie. Das Gesetz 8271 stellt Präsident Wolodimir Selenski vor eine der schwierigsten Entscheidungen seiner Karriere: Mit einer Unterzeichnung bringt er möglicherweise den motiviertesten Teil der Soldaten gegen sich auf, mit einem Veto aber die ganze Armeeführung.

Nach einem russischen Angriff auf einen Vorort von Bachmut brennen Häuser.


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